Hinter den Kulissen

Darf ich vorstellen: Das sind Ronny und Freya. Sie sind der Stein des Anstoßes zu „Die Grenze zwischen Licht und Dunkelheit“, denn im Gegensatz zu meinen ersten beiden Büchern gibt es dieses Mal tatsächlich eine persönliche Begebenheit, die mich dazu inspiriert hat. Und auf dieser Seite möchte ich Ihnen erzählen, wie die beiden mir nicht nur unbewusst zu einem Thema für meinen neuen Roman verholfen haben, sondern auch meinen eigenen Blick darauf verändert haben. Oder sagen wir lieber, dass sie mich überhaupt erst dazu gebracht haben, mich damit zu befassen, denn Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit waren in meinem Leben eigentlich immer weit weg. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen und lebe heute in einer Kleinstadt, wo man damit kaum in Berührung kommt. Menschen, die auf der Straße sitzen und betteln oder in Schlafsäcke gehüllt vor den Eingängen großer Kaufhäuser liegen, kannte ich höchstens mal von einem Ausflug in die großen Städte, mit den entsprechenden Berührungsängsten und sicher auch ein paar Vorurteilen. Und dann waren da plötzlich Ronny und Freya – deren Namen ich damals natürlich noch nicht kannte.

Es war im Herbst 2020, als dieser Mann und seine Hündin zum ersten Mal auf meinem Arbeitsweg in der Unterführung zwischen der Hamelner Fußgängerzone und der Tiefgarage Rattenfängerhalle auftauchten. Sie saßen  dort auf ein paar alten Decken, neben sich einen großen Rucksack, vor sich ein Körbchen mit ein paar Münzen drin, und bettelten. Und ich war wie meine Protagonistin Rieke, die tagtäglich stur an ihnen vorbeilief und darauf hoffte, nicht angesprochen zu werden. Damit hören die Gemeinsamkeiten allerdings auch schon wieder auf, denn ich bin Ronny nicht vor die Füße gefallen, und seine Geschichte hat auch rein gar nichts mit der von Tom zu tun. Im Gegenteil, ich war lange Zeit weit entfernt davon, überhaupt zu wissen, warum er dort saß, ob er nur bettelte oder richtig obdachlos war. Und ich wäre vielleicht nicht einmal auf die Idee gekommen, mich näher mit ihm und dem Thema Obdachlosigkeit zu beschäftigen, wenn es nicht noch ein paar weitere Zündfunken gegeben hätte, die mir nach und nach die Augen dafür geöffnet haben.

Zwei Bücher

Der erste Wink war die Neuauflage eines Romans im Oktober 2020. In „Immer montags beste Freunde“ geht es um Laura, eine erfolgreiche Verkaufsleiterin, die auf dem Weg zur Arbeit durch die Straßen von New York hetzt und kaum auf ihre Mitmenschen achtet. Auch nicht auf den kleinen Jungen, der sie um Kleingeld anbettelt. Sie ist schon an der nächsten Straßenecke, als sie plötzlich stehen bleibt und umkehrt, den hungrigen Maurice zu McDonalds zum Essen einlädt und von seinem Leben erfährt. Der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft, die das Leben der beiden verändert.

Ich hatte diese – übrigens wahre – Geschichte bereits 2015 in der ersten Ausgabe gelesen, und ich erinnerte mich sofort daran, wie sehr sie mich damals berührt hatte. Allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, dass das etwas mit „meinem“ Bettler zu tun haben könnte. Der war schließlich kein kleiner Junge, sondern ein ausgewachsener Mann, und ich hatte nicht vor, ihn zum Essen einzuladen. Aber irgendwo in meinem Unterbewusstsein gab es anscheinend schon eine Schublade, in der Ronny und der Roman zusammen abgelegt wurden.

Kurz darauf gesellte sich ein weiteres Buch dazu. „Ein mittelschönes Leben“ von Kirsten Boie und Jutta Bauer. Ich wusste nicht, worum es sich dabei handelte, als ich den Titel im Laden für einen Kunden heraussuchte. Bis ich es schließlich in der Hand hielt und erkannte, dass es ein Kinderbuch über Obdachlosigkeit ist, herausgegeben vom Verlag des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt. Wenn das mal kein Zaunpfahl war! Dieses Exemplar war zwar verkauft und weg, aber das Buch sollte tatsächlich meine erste von vielen Recherchelektüren werden, egal wie kindlich es war.

Ein Werbespot und ein Schokoweihnachtsmann

Etwa zur selben Zeit wie das Kinderbuch traf mich ein weiterer Zaunpfahl, diesmal in Form eines Werbespots. In den Wochen vor Weihnachten 2020 gab es eine unglaublich berührende Kampagne des Discounters Penny, die im Internet unter dem Titel „Stell dir vor, das würde jeder machen. Weihnachten für alle.“ viral ging. Ein Junge macht diesen und jenen Blödsinn und wird jedes Mal angeschnauzt: „Ey, Junge! Stell dir vor das würde jeder machen!“ Er stellt es sich vor und hat Spaß, doch die Realität sieht anders aus. Dann die letzte Szene: Der Junge ist mit seiner Mutter in der Stadt unterwegs, schnappt sich plötzlich den Schokoweihnachtsmann aus ihrem Einkaufskorb und schenkt ihn einem Obdachlosen. Als die Mutter dazukommt, sagt der Junge: „Stell dir vor, das würde jeder machen.“

 

https://www.youtube.com/watch?v=-9oxKuGNHs4

Das war mein ganz persönlicher Moment, in dem es Klick gemacht hat. Am nächsten Tag hatte ich einen kleinen Schokoweihnachtsmann mit etwas Geld dran in meiner Tasche und wollte ihn dem Bettler geben – aber er war plötzlich weg und tauchte tagelang nicht wieder auf. Dann kam der zweite Corona-Lockdown von Mitte Dezember bis Anfang März. Buchhandlung zu, Kurzarbeit, und die wenigen Male, an denen ich zur Arbeit musste, war von Ronny und Freya weit und breit nichts zu sehen.

Ein Bild bei Instagram

Was in dieser Zeit dagegen nicht zum Stillstand kam, war mein Kopf. Ich hatte ein Thema und ein schemenhaftes Bild von einem Tom vor Augen. Also setzte ich mich wie Rieke vor den Laptop, recherchierte das Thema Obdachlosigkeit und las Romane, Erfahrungsberichte und alles mögliche andere, was sich damit befasste. Währenddessen nahmen die Protagonisten immer mehr Gestalt an, und am 18. Februar 2021 holte ein Instagram-Bild von @positivewelt zum finalen Schlag aus und setzte mir die Kernaussage meines potenziellen neuen Romans direkt vor die Nase: „Es gibt viele Gründe, warum jemand auf der Straße landet. Aber es gibt keinen einzigen Grund, ihn nicht wie einen Menschen zu behandeln.“

 

Ein Lockdown und eine Buchhandlung

Als hätte er nur darauf gewartet, tauchte plötzlich auch „mein Bettler“ wieder auf – aber nicht im Fußgängertunnel oder auf der Straße, sondern direkt bei mir vor der Ladentür. Es war zu der Zeit, als wir in der Buchhandlung für Click&Collect-Bestellungen eine Abholstation betreiben durften. Ronny hatte zwar nichts bestellt, brauchte aber etwas zu lesen. Und als er mir zum Bezahlen sein erbetteltes Kleingeld zusammensuchte, kamen wir zum ersten Mal miteinander ins Gespräch. Zunächst nur kurz und oberflächlich, aber es war ein Anfang. Und wir hatten sogar eine gemeinsame Basis – Bücher. Denn Ronny erzählte mir, dass es in seinem Leben genau zwei Lieben gibt: seinen Hund und die Bücher.

Kurz darauf durften die Geschäfte wieder öffnen und wir begegneten uns öfter. Ich auf dem Weg zur Arbeit, der Bettler zwischenzeitig in der Fußgängerzone statt im Tunnel. So richtig schaffte ich es allerdings noch nicht, über meinen Schatten zu springen und auf ihn zuzugehen. Bis mir erneut die Bücher einen Anlass gaben, ihn unverbindlich anzusprechen und auf unsere Taschenbuchschnäppchenaktion im Laden hinzuweisen, ein wenig Startkapital dafür inklusive. Ein paar Tage später kam Ronny dann tatsächlich zum Stöbern vorbei und wir redeten noch ein bisschen miteinander, wobei ich ihm auch von meinen Romanen erzählte und der Idee, etwas zum Thema Obdachlosigkeit zu machen.  Er fand das toll und bot an, mir Fragen dazu zu beantworten, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er nicht so gerne darüber redete. Und ich war zu zurückhaltend, um weiter nachzuhaken, und habe mein Ding stattdessen alleine durchgezogen.  Inzwischen weiß ich, dass ich mich ganz schön getäuscht habe. Ronny redet sogar sehr gerne, wenn man ihm mit ehrlichem Interesse zuhört. Aber wer weiß, wozu es gut war. Wahrscheinlich hätte der Roman sonst noch einige hundert Seiten mehr – und Tom natürlich einen Hund.

Seit unserer ersten Begegnung sind fast zweieinhalb Jahre vergangen. Ronny und Freya sind immer noch da, an ihrem üblichen Platz in der Fußgängerunterführung. Nicht immer, aber oft. Mittlerweile sind wir Freunde. Ronny weiß inzwischen natürlich von Projekt Rieke und Tom und freut sich wie verrückt, der Ideengeber zu einem Roman zu sein. Ich kenne jetzt auch seine Geschichte, und sie bewegt mich zutiefst. An dieser Stelle soll es egal sein, ob er obdachlos, wohnungslos oder „nur“ bettelarm ist und seit wann, denn es ist allein Ronnys Angelegenheit, wem er davon erzählen will und wem nicht. Aber wenn man nur richtig hinschaut, sich für ihn interessiert und ihn respektiert, wird eins sofort klar: Es ist egal, aus welchem Grund er auf der Straße gelandet ist, ob er wie Tom durch einen Schicksalsschlag mitten aus dem Leben gerissen wurde, von Anfang an nie wirklich eine Chance hatte oder was auch immer. Aber es gibt keinen einzigen Grund, ihn nicht wie einen Menschen zu behandeln.

Und wenn Sie demnächst an einem Obdachlosen, Wohnungslosen oder Bettler vorbeikommen, denken Sie vielleicht an Ronny oder Tom oder beide und schenken diesem Menschen auch mal einen Blick, ein Lächeln oder einen Euro – kurz gesagt ein bisschen Aufmerksamkeit. Er oder sie wird sich bestimmt darüber freuen.